Dies Domini – 5. Sonntag der Osterzeit, Lesejahr B
Warum? – Das ist mehr Anklage als Frage, mehr Schrei als Erwartung einer Antwort. Es ist der Horror der Sinnlosigkeit, der dem Schrei vorausgeht. Wo ist der Sinn des Seins, wenn alles sinnlos erscheint?
Ein Schrei bedarf keiner Antwort. Er bedarf noch nicht einmal eines Adressaten. Der Schrei steht für sich. Er ist auszuhalten. Jede noch so gut gemeinte Antwort geht fehl, weil keine Frage gestellt wurde. Und Antworten auf ungestellte Fragen sind wie Walzermusik zur Trauer.
Der Verzweiflungsschrei des Warum ist in das Dunkel gerichtet. Ob da ein Gott ist oder nicht – die Antwort bleibt aus. Für die, die an keinen Gott glauben können, kommt in dem Schrei des Warum die Sinnlosigkeit des Seins auf den Punkt. Die, die an einen Gott glauben können, haben einen Adressaten für ihre Anklage: Gott ist schuld. Er möge sich erklären. Er möge dem Sinnlosen Sinn geben. Aber der so Angeklagte schweigt nur allzu oft. Stattdessen reden seine Boten von Solidarität und von der Hoffnung wider alle Hoffnung. Und sie können es gut begründen, denn es sind Worte der Schrift, die sie zitieren, und niemand außer ihnen selbst weiß, ob sie selbst angesichts des Leids der Welt glauben, was sie sagen. Vom Schweigen reden sie sonst so oft. Und dann, wenn die Worte fehlen müssten angesichts der abgrundtiefen Dunkelheit des sinnlosen Leids, da reden sie. Sie reden von der Auferstehung und der Liebe Gottes, in der alles Leid geborgen ist. Aber warum ändert sich dann nichts in dieser Welt? Wo ist das Zeichen, dass das alles wahr ist?
Es gibt eine Zeit zu streiten und zu verstehen. Es gibt eine Zeit zu erkennen und zu schweigen. Es gibt eine Zeit zu hoffen und zu trösten. Vor allem aber gibt es eine Zeit zu hören und zu handeln. Worte sind das eine, Taten das andere. Die Wahrheit ist nicht zuerst eine Frage des Denkens. Die Wahrheit ist ein Geschehen. Daran erinnert auch die 2. Lesung vom 5. Sonntag der Osterzeit im Lesejahr B, die dem 1. Johannesbrief entnommen ist:
Meine Kinder, wir wollen nicht mit Wort und Zunge lieben, sondern in Tat und Wahrheit. Daran werden wir erkennen, dass wir aus der Wahrheit sind, und werden unser Herz in seiner Gegenwart beruhigen. (1 Johannes 3,18)
Wahr ist nur das, was getan wird. Das Geschehen ist Offenbarung der Wahrheit. Worte sind nur Laute, die alles und nichts sagen. Man kann ihnen glauben oder auch nicht. Das aber was getan wird, geschieht; und was geschieht, wird ein Factum – eine Tatsache.
Warum!? – Nach Matthäus schreit Jesus in der Gottverlassenheit des Kreuzes den Psalm 22 hinaus:
Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen? (Psalm 22,2/Matthäus 27,46)
Auch nach dem Zeugnis der anderen synoptischen Evangelien – das sind neben Matthäus noch Markus und Lukas – stirbt Jesus mit einem Schrei. Und Gott, der himmlische Vater? Er schweigt. Kein Wort des Trostes. Kein Wort der Hoffnung. Keine Erklärung. Aber eine Tat! Denn auch darin sind sich die synoptischen Evangelien einig: Im Moment des Todes Jesu zerreißt der Vorhang im Tempel.
Der Vorhang im Tempel – das ist mehr als ein Accessoire. Der Vorhang hing vor dem Allerheiligsten im Tempel. Er verbarg die שְׁכיִנָה (sprich: Schechinah). Die Schechinah ist der Inbegriff der Gegenwart Gottes. Den Begriff mit „Herrlichkeit“ wiederzugeben, wie es etwa die Einheitsübersetzung tut, ist fast unzureichend. Es gibt eigentlich keine Worte, um die Größe und Intensität der Gegenwart Gottes zu beschreiben. Nicht umsonst wird sie deshalb mit einem Vorhang verhüllt. Schon Mose musste diese Erfahrung machen, als er das Antlitz Gottes schauen möchte:
Dann sagte Mose: Lass mich doch deine Herrlichkeit sehen! Der Herr gab zur Antwort: Ich will meine ganze Schönheit vor dir vorüberziehen lassen und den Namen des Herrn vor dir ausrufen. Ich gewähre Gnade, wem ich will, und ich schenke Erbarmen, wem ich will. Weiter sprach er: Du kannst mein Angesicht nicht sehen; denn kein Mensch kann mich sehen und am Leben bleiben. Dann sprach der Herr: Hier, diese Stelle da! Stell dich an diesen Felsen! Wenn meine Herrlichkeit vorüberzieht, stelle ich dich in den Felsspalt und halte meine Hand über dich, bis ich vorüber bin. Dann ziehe ich meine Hand zurück und du wirst meinen Rücken sehen. Mein Angesicht aber kann niemand sehen. (Exodus 33,18-23)
Der Vorhang im Tempel machte die Begegnung mit der Gegenwart Gottes möglich, gerade weil er dessen Herrlichkeit verhüllte. Das Zerreißen des Vorhangs aber offenbart genau diese Herrlichkeit. Sie wird sichtbar. Sie wird in dem Moment sichtbar, in dem Christus am Kreuz stirbt. Am Kreuz wird die Herrlichkeit Gottes offenbar. Der Vater schweigt angesichts des sinnlosen Leidens seines Sohnes. Was wollen Worte wirken? Aber er handelt. Er nimmt die Decke von seinem Antlitz. Er zeigt sich. Die Wahrheit wird offenbar als Tat. Gott antwortet nicht mit Begriffen, Lehrsätzen und frommen Formeln und trostlosen Floskeln. Er handelt. Er zeigt sich. Wer Augen hat zu sehen, der nehme wahr!
Und heute? Wo handelt Gott heute angesichts des Leids seiner Geschöpfe? Wo offenbart er heute sein Antlitz? Was nutzt der Glaube an die Auferstehung, wenn das alles doch ohne Wirkung im Hier und Jetzt bleibt?
Die evangelische Kirche im Rheinland beging am 25. April 2015 in der Alten reformierten Kirche in Wuppertal-Elberfeld angesichts der 700 Menschen, die bei ihrer Flucht im Mittelmeer den Tod gefunden haben, einen Klagegottesdienst. Im Fürbittengebet erinnerte Superintendentin Ilka Federschmidt nachdrücklich an Absender und Adressat der Klagen:
„Gott, mach Dich ans Werk! Bei den Regierenden und bei uns selbst!“ (Quelle: Evangelisch in Wuppertal)
Damit bringt sie auf den Punkt, was Jesus selbst vor gut 2.000 Jahren im Gleichnis vom Weinstock und den Rebzweigen seinen Jüngerinnen und Jüngern als Vermächtnis hinterließ:
Ich bin der wahre Weinstock und mein Vater ist der Winzer. Jede Rebe an mir, die keine Frucht bringt, schneidet er ab und jede Rebe, die Frucht bringt, reinigt er, damit sie mehr Frucht bringt. Ihr seid schon rein durch das Wort, das ich zu euch gesagt habe. Bleibt in mir, dann bleibe ich in euch. Wie die Rebe aus sich keine Frucht bringen kann, sondern nur, wenn sie am Weinstock bleibt, so könnt auch ihr keine Frucht bringen, wenn ihr nicht in mir bleibt. Ich bin der Weinstock, ihr seid die Reben. Wer in mir bleibt und in wem ich bleibe, der bringt reiche Frucht; denn getrennt von mir könnt ihr nichts vollbringen. (Johannes 15,1-5)
Jesus spricht diese Worte, die im Evangelium vom 5. Sonntag der Osterzeit im Lesejahr B verkündet werden, am Vorabend seines Todes. Er weiß, dass sein Tod bevor steht. Er weiß, dass er bald nicht mehr in irdischer Weise bei den Seinen sein wird. Aber sein Werk soll weitergehen. Es wird weitergehen. Seine Tatkraft, seine Lebensmächtigkeit wird in ihnen weiterleben – so wie die Rebzweige ihre Vitalkraft aus dem Weinstock erhalten. Es ist derselbe Lebenssaft, der vom Weinstock in die Rebzweige fließt. In den Jüngerinnen und Jüngern, die diesen Lebensgeist vom Weinstock her erhalten, wirkt Jesus selbst weiter. Und auch hier sind es nicht die Worte, die wiederholt werden sollen. Die Worte sollen wirken. Und sie wirken erst, wenn sie zur Tat werden:
Wenn ihr in mir bleibt und wenn meine Worte in euch bleiben, dann bittet um alles, was ihr wollt: Ihr werdet es erhalten. Mein Vater wird dadurch verherrlicht, dass ihr reiche Frucht bringt und meine Jünger werdet. (Johannes 15,7f)
Frucht bringen und Jünger werden – das sind Tatsachen und keine Lippenbekenntnisse.
Gott mag schweigen, aber er handelt. Worten kann man glauben oder nicht. Tatsachen sind da. Der Schrei des Warum!? braucht keine Antworten. Er braucht ein Gegenüber, das den Schrei erträgt. Der Schrei des Warum!? darf auch heute nicht ungehört verhallen. Weil sie seinen Lebensgeist in sich tragen, ist es heute an den Jüngerinnen und Jüngern Jesu der Welt das Antlitz Gottes zu zeigen. In ihnen soll das Antlitz Gottes aufleuchten. Klagegottesdienste sind da ein erster Schritt. Wichtiger aber ist es, den Leidenden das Antlitz Gottes unmittelbar zuzuwenden. Um Gottes willen? – mag sich da mancher erschrecken und sich hinter seine bequeme Zauderhaftigkeit zurückziehen. In der Tat: Um Gottes willen!
Dr. Werner Kleine
Author: Dr. Werner Kleine
Dr. Werner Kleine ist katholischer Theologe und Initiator der Katholischen Citykirche Wuppertal. Er tritt für eine Theologie ein, bei der der Mensch im Mittelpunkt steht.
Du kannst einen Kommentar schreiben.